Neustart & neue Initiativen
Schon kurz nach Kriegsende wurden in den Pfarreien die Vinzenzvereine wieder aktiv. Bei der Generalversammlung dankten im Kolpinghaus am 18. Juli 1948 die acht Vereine dem DCV Diözesancaritasverband für die Weiterleitung von Lebensmittelspenden. Der DCV hatte bereits 1945 Patenschaften für "Notstandsdekanate"gebildet: So wurde in Warendorf für Recklinghausen und Datteln gesammelt. Im Zentrum der Arbeit der Vinzenzvereine stand wieder die ortsnahe Unterstützung bedürftiger Familien, insbesondere auch der Bombenopfer und Flüchtlinge. Gemeinsam teilten die Vinzenz- und Elisabethvereine von St. Paul die Pfarrei 1946 in 20 Bezirke auf, um direkt Nothilfe vor Ort leisten zu können; für die vier Caritas-Haussammlungen waren sogar 72 Bezirke gebildet worden. Der Jahresbericht von St. Marien zählt 1958 ca. 400 Bedürftige auf. Hinzu kamen 1953/54 Lebensmittelsammlungen für Menschen in Ost-Berlin.
Da der "materialistische Zeitgeist" und die Auffassung, "im Sozialstaat überflüssig" zu sein, um sich griff, wie es 1955 im Verein St. Peter formuliert wurde, lösten sich die Vereine bis Anfang der 60er Jahre auf. Die Elisabethvereine oder -konferenzen wandelten sich zu Caritas-Konferenzen, die unter verschiedenen Namen bis heute in den Pfarreien bestehen und ehrenamtlich mit dem Fachdienst Gemeindecaritas zusammenarbeiten. Im Kinder- und Jugendbereich wurden die Ferienhilfswerke in Zusammenarbeit mit den Pfarreien wieder aufgebaut.Der CV eröffnete das Kindergenesungsheim Haus Sythen (1947-1967) und bot Familienerholungsmaßnahmen und Müttergenesungskuren an.
1946 begann die Caritas mit ihren Vorsitzenden Propst Walgern (1939-1950) und Pfarrer Theodor Pasch (1950-1967) sowie Caritasdirektor Gerhard Jonczyk (1952-67) in einem Tiefbunker, dann im Vinzenzheim mit der Aufnahme und Berufsvermittlung für obdachlose und berufslose Jugendliche. Auf den Trümmern der "Wandererarbeitsstätte" war 1950 das Caritas-Berglehrlingsheim Christophorushaus mit 107 Plätzen, am Elper Weg 7 das Marienheim (bis 1963) für 45 Jungarbeiterinnen und weibliche Lehrlinge entstanden, zu dem der CAJ-Gründer Cardijn den Grundstein legte; ein Raum war dem Jugendschutz vorbehalten. Speziell für die Integration jugendlicher Flüchtlinge wurde am 19.07.1947 in der Caritas-Geschäftsstelle Schaumburgstr. 2 und mit der Unterstützung der Caritas der Verein "Internat für ostvertriebene katholische Schüler" gegründet, dem 1947 das Schülerheim St. Josef der Maristen und ab 1954 das Bischof-Kaller-Heim am Schimmels- heider Park zur Verfügung gestellt wurde. Die Angebote für Jugend-liche umfassten zudem Beratung, Hilfsmaßnahmen, Erziehungsbeistandschaften und die Beratung von Kriegsdienstverweigern.
Seniorenhilfe als Generationen-Aufgabe
Die als Folge zweier Weltkriege ungünstiger werdende Familien- und Altersstruktur führte dazu, die Seniorenarbeit zum Schwerpunkt zu machen. Zu den bis 1955 nur 72 Plätzen im Gasthaus, dem St.-Anna-Heim (bis 1961) und dem Suderwicher Caritashaus kamen neue Einrichtungen: Das St. Hedwigsheim (160 Plätze) wurde 1961 eingesegnet und 1986 erweitert; 1967 schuf das Neue St. Vinzenzheim am Börster Weg 11 weitere 101 Plätze und wurde zugleich Sitz des Verbandes. Das zwei Jahr später zunächst von der Pfarrei errichtete Altenheim St. Gertrudis kam erst 2004 in die Trägerschaft des Caritasverbandes. Mit altersgerechter Wohnanlagen 1977 Im Romberg und an der Behringstraße sowie 1983 an der Waisenhausstraße wurden neue Angebote geschaffen, damit Senioren stadtteilnah geeignete Wohnungen finden können.
Initiativen für Menschen mit Behinderung
Der Aufbau neuer Kindergärten verlief meist in der Trägerschaft der Pfarreien - 1988 gab es 20 katholische Einrichtungen unter 37 stadtweit. Der CV hatte das Christopherushaus zur Kindertagesstätte umgewandelt und errichtete 1962 dort seine neue Fachschule für Sozialpädagogik, die später vom Bistum übernommen wurde. Nicht nur in diesem Bereich entwickelte der CV neue Initiativen, sondern auch seit 1966 sein Engagement für Behinderte: Aus provisorischen Anfängen in einer alten Chefarztvilla an der Hohenzollernstraße, dann im ehemaligen Kloster Stuckenbusch entstanden 1975 die "Früherziehung für Behinderte", eine Pionierarbeit von Notburga Reisige. Zeitgleich gründete der CV einen "Sonderkindergarten" in Stuckenbusch, der 1981 bereits 5 Gruppen umfasste und1988 durch eine integrative Gruppe ergänzt wurde. Beide Einrichtungen sind heute im Gebäude-komplex im Klostergarten von St. Franziskus vereint. Als dritte Säule entstand am 3. November 1965 eine Tagesbildungsstätte für geistig Behinderte, die 1969 die An-erkennung des Landes NRW nach dem neuen Schulpflichtgesetz erhielt. Die darin festgeschriebene Pflicht auch für geistig Behinderte führte zu wachsendem Bedarf, so dass 1974 das Kinderheim St. Peter am Börster Weg umgewandelt wurde; 1977 wurde sie als private Ersatzschule anerkannt. Einrichtungen der Diakonie (wie die Recklinghäuser Werkstätten) oder später der Lebenshilfe komplettierten die Unterstützung der Behinderten.
Rat und Hilfe für Schwangere in Notlagen
Bereits in den Gründungsjahren gehörten zum Aufgabenfeld des Caritasverbandes spezifische Beratungsdienste, die im Laufe der Jahrzehnte bedarfsgerecht wuchsen. 1983 wurde die Sozialberatung für Schwangere in Notlagen gegründet, die sich gleichermaßen als Anwalt der Ungeborenen sowie als Hilfe im Entscheidungsprozess der Frauen versteht. Im Zusammenhang mit den gesetzlichen Änderungen des § 218 StGB, die zu langwierigen gesellschaftlichen und innerkirchlichen Debatten führten, wird ihre Beratung seit dem Jahr 2000 ohne Ausstellung des "Scheins" durchgeführt, während die katholische Initiative "Donum Vitae" in dieses staatliche System eingebunden ist.
Aussiedlern eine neue Bleibe geben
Den Beratungsstellen für junge Erwachsene widmeten sich in den 80er Jahren neben der Hilfe für Arbeits- und Wohnungssuche vor allem der Unterstützung der zahlreichen Aussiedler (UdSSR, Polen, Rumänien) und Asylbewerber (z.B. Ghana, Libanon, Jugoslawien). So gab es CV-Büros in den Ende der 80er Jahre errichteten Übergangsheimen Börster Weg (bis 2010), Dortmunder Straße und Canisiusstraße (bis 2009). Die Begegnungs- und Beratungszentren an der Kölner Straße (bis 2002) und Im Ziegelgrund unterstützten diese Nachbarschaftsarbeit auch mit Angeboten für Kinder und Jugendliche.
Von der Fürsorge zur modernen Sozialarbeiter
Der im 19./20. Jahrhundert entstandene moderne Sozialstaat in Deutschland ist ganz wesentlich von den Ideen der katholischen Soziallehre geprägt, deren Kerngedanken mit Personalität, Subsidiarität und Solidarität umschriebenwerden. So hat sich ein innovatives Netzwerk freier Träger entwickeln können, die in eigener Initiative im Rahmen gesetzlicher Rahmenbedingungen Mitverantwortung übernehmen. Der damit verbundene Ausbau der Caritas zur sozialen Großorganisationen lässt sich am Beispiel der Sozialstationen verdeutlichen: "Was passiert, wenn die Schwestern einmal fehlen?" titelte die WAZ am 29.2.1972. Caritas-Geschäftsführer Hermann Schäfer sorgte sich um die Zukunft der Pflegedienste. Bis 1970 waren 19 Ordensfrauen aus 11 Schwesterhäusern das Rückgrat der ambulanten Versorgung in den Gemeinden; zwei Jahre später waren es noch 11. Stadtweit waren 158 Ordensschwestern in Krankenhäusern und Pflegeinrichtungen aktiv. Die Internationalisierung der Ordensgemeinschaften hatten dazu beigetragen, dass ab 1960 auch Schwestern aus Spanien, Indien oder Nigeria diese Arbeit unterstützen.
Die Pflege als Herausforderung
Am 13.08.1974 wurde auf Einladung des CV-Vorsitzenden Rektor Hermann Jaspers (1967-1991) in Absprache mit den Pfarreien der Aufbau eines zentralen ambulanten Pflegedienstes mit zunächst 3 Mitarbeiterinnen beschlossen, der die gemeindliche Versorgung durch die Schwesternhäuser ersetzen sollte. Der Dienst wuchs rasch: Sechs Jahre nach der Gründung gab es bereits 6 Ordens- und 5 Krankenschwestern, eine Altenpflegerin und 37 nebenamtliche Helferinnen, die bei 25.000 Hausbesuchen 465 Patienten betreuten. Sitz der Sozialstation war zunächst die Altenwohnanlage an der Waisenhausstraße; die Süder Station entstand 1992 zunächst im alten Schwesternhaus an der Antoniusstraße. Zu den neuen Finanzierungsmodellen gehörten Landeszuschüsse und seit 1995 die durch den Bund eingeführte Pflegeversicherung. Andere ambulante Dienste wie der Hausnotrufdienst und "Essen auf Rädern" wurden in den Jahren 2006/2007 in Kooperation mit dem Malteser-Hilfsdienst (MHD) aufgebaut.
Vom Verein zum Unternehmen der Wohlfahrtspflege
Der Ausbau des Sozialstaates und die Einbindung der Caritas in das System der freien Wohlfahrtspflege sowie gesellschaftliche und kirchliche Veränderungen haben Aufgaben und Struktur des CV grundlegend verändert. Ordensgemeinschaften und Vereine als Träger der pfarrgemeindlich verankerten Caritas haben ihre zentrale Bedeutung verloren. Als selbständige katholische Sozialvereine sind noch der 1917 gegründete Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) und der MHD aktiv. Der Caritasverband für die Stadt Recklinghausen hatte seinen institutionellen Charakter in einem Dreivierteljahrhundert grundlegend verändert: Einst 1916 als Koordinationsstelle gegründet, entstand daraus bis 1990 die Großorganisation eines Sozialverbandes mit 250 hauptamtlichen Mitarbeitern, unterstützt seit 1967 durch Zivildienstleistende und in Kooperation mit Ehrenamtlichen in den Gemeinden und Institutionen wie Krankenhäusern sowie Kindergärten und Seniorenheimen in der Trägerschaft von Pfarreien.